Warum der Fall Relotius zeigt, dass „echte“ Reportagen wichtig sind

Wie steht es um die Reportage nach dem Betrug von Claas Relotius? Warum braucht es sie überhaupt? Was sollen die Beschreibungen einer subjektiv wahrgenommenen Wirklichkeit? Manche stellen die Darstellungsform in Frage. Dabei sind „echte“ Reportagen wichtig.

An der Journalistenschule wurde die Reportage – vor allem die Magazinreportage – als eine Königsdisziplin gelernt. Der Journalist beschäftigt sich hier nicht nur mit Zahlen und Fakten eines Themas, die in Bilanzen oder Akten nachzulesen sind. Der Journalist begibt sich in das Umfeld der Fakten und beobachtet. Er beobachtet die Menschen, wie sie agieren, was daraus entsteht. Und indem der Journalist das filtert und beschreibt, versucht er erfahrbar zu machen, was die Fakten nur behaupten können. Was ist Altersarmut, wenn man nicht sieht, was mit den Menschen passiert? Erst die Beobachtung macht es greifbar für Dich und mich.

Ich habe immer schon gerne beobachtet, versucht daraus die Welt und vor allem Menschen zu verstehen. Daher ist die Reportage für mich die schönste Form meiner journalistischen Arbeit. Menschen lassen mich nah an sich heran, erzählen ihre Geschichten. Diese Geschichten zeigen die Facetten der vielen Leben. Wie gehen sie um mit Leid, Schwierigkeiten, teils auch mit dem Scheitern. Es ist ein wichtiges Instrument, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Gerade bei Wirtschaftsthemen sind gute Reportageelemente für den Leser ein enormes Hilfsmittel. Daher verteidige ich das Genre.

Es schmerzt mich, wenn große Sendeanstalten an Reportagen einsparen und lieber einen Journalisten trocken recherchieren und im Studio erzählen lassen. Es schmerzt mich, wenn gesagt wird, das lässt sich über die Nachricht berichten und muss nicht weiter recherchiert werden. Und es schmerzt mich, wenn ich am Ende sehe, welche Honorare für Reportagen veranschlagt werden.

Eine Sache des Vertrauens

Da wundert es kaum noch, dass viele Reportagen aus den Szenen eines Cafébesuchs mit dem Protagonisten bestehen, weil keine Zeit und kein Geld für weitere Elemente da waren. Nur szenische Elemente zu haben, das verfehlt den Sinn, der dahinter steht. Aber demnach wundert es mich auch nicht, dass so etwas passiert: Erfundene Reportagen.

Relotius hat erfunden. Das verstößt gegen journalistische Grundsätze. Und niemand hat es vorher gemerkt. Wie oft mag das wohl vorkommen? So falsch es auch ist, bedeutet das aber nicht, dass man die Reportage streichen sollte – wie teils gefordert. Es bedeutet vielmehr, dass Verlage und Medienanstalten darüber nachdenken müssen, wie sie das Vertrauen und den journalistischen Anspruch zurückgewinnen. Das geht nur, indem man den einzelnen Produkten wieder mehr Wertschätzung und Zeit einräumt.

Eine Reportage kostet Zeit und Geld. Sie braucht Redakteure, die die Texte nicht nur auf ihre „Schönschreiberei“ redigieren, sondern auch Fakten noch einmal nachprüfen. In der Journalistenschule hatten wir in einem Semester das Fach „Fact-Checking“. Doch das habe ich in Redaktionen nie wieder getroffen. Dabei geht es manchmal nur um kleine Nachrecherchen. Gibt es den Protagonisten? Stimmen Daten und Namen? Das ist ohnehin wichtig, denn dem Journalisten passieren auch Fehler, wie jedem anderen auch. So ist eine Absicherung immer sinnvoll.

Nähe zu den Themen

Aber das scheint den Medienhäusern nicht mehr wichtig genug. Gerade im Online-Bereich werden Nachrichten und Schnelligkeit immer wichtiger. Es verlagert sich. Und die Qualität leidet – auch im Journalismus. Fehler wie durch Relotius zeigen, dass man darüber reden muss. Wir müssen auch über Journalismus immer wieder neu nachdenken. Kosten hin und her. Wenn Journalisten und damit die Medien ihre Glaubwürdigkeit verlieren, dann wird der Kostendruck viel höher werden. Wir brauchen dringend mehr Reporter. Wir brauchen die Nähe zu den Themen und es braucht Texte, die berühren und den Leser fesseln. Sonst können Roboter in den nächsten Jahrzehnten für uns arbeiten.

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